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Im Rahmen des Modellprojekts „Sagenhaftes Mittelsachsen“ entstand ein Portrait mit dem regionalen „Sagenexperten“ Nils Kochan.

Mit Hilfe des Projekts sollen besondere und einmalige Verknüpfungen zwischen mittelsächsischen Sagen und Produkten, Projekten und Angeboten des Landkreises bekannt gemacht werden. Alle Infos zum Projekt sind online unter www.sagenhaftes-mittelsachsen.de zu finden. Dort gibt es auch den direkten Kontakt zum Projektmanagement, das gern berät, wie man sagenhafte Ideen auf die Beine stellen kann. Das Projekt wird im Rahmen des Modellvorhabens „Aktive Regionalentwicklung“ vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung gefördert. Projektträger ist die Wirtschaftsförderung des Landkreises Mittelsachsen.

Nils Kochan hat ein Händchen für Zahlen und digitale Universen. Als selbstständiger IT-Spezialist und Softwareentwickler programmiert der gebürtige Dresdner seit 2004 Computerspiele und Webprojekte, wie die „solidarische Saftwirtschaft“, welche Auskunft über Streuobstwiesen gibt, die zusammen mit anderen Interessierten beerntet werden kann und mit Terminen der mobilen Saftpresse verknüpft ist. Aktuell erarbeitet er eine Wildbienen-WebApp zur Bestimmung und Erfassung dieser Insekten. Seine ersten beruflichen Schritte unternimmt Nils Kochan dagegen in der Landwirtschaft, studiert, landet schnell im Bereich Datenverarbeitung. 1992 ist er für den sächsischen Rinderzuchtverband tätig und später für den Landeskontrollverband. Seine Leidenschaft für regionale Sagen bedeutet für ihn kein Bruch zum eigentlichen Arbeitsfeld. Im Gegenteil: Von seiner Neugier, seinem Wissen und den Fähigkeiten als Softwareexperten profitieren mittlerweile Ideen und Angebote rund um den mittelsächsischen Sagenschatz.

„Schon früher faszinierten mich Sagen, besonders für regionale Geschichten habe ich ein Faible“, sagt Nils Kochan und zeigt auf die mit Büchern gefüllten Regale in seinem Arbeitszimmer. Aktuell umfasst diese Sammlung über 100 Einzelbände. Sagenbücher von Meiche stehen neben jenen von Klengel und einer Sammlung von Endt, darunter auch Comics, die Sagen „in die Zeit holen“, sowie kunstvoll gestaltete Sagenbücher aus dem tschechischen Raum. Jede Reise beinhaltet einen Abstecher in Buchhandlungen und örtliche Antiquariate: „Wegen der tollen Atmosphäre und, weil es immer etwas zu entdecken gibt.“ Sein erstes Sagenbuch aber wird das Besondere bleiben: Ein Nachdruck des 1874 in G. Schönbergs Verlagsbuchhandlung erschienenen „Sagenschatzes des Königreichs Sachsen“. Johann Georg Theodor Grässe trug hier 728 Geschichten zusammen – eine unglaubliche Quelle an Inhalten und Informationen, aus der der 57-Jährige heute noch schöpft. Dass das Werk in Fraktur gedruckt ist, stört wenig: „Man liest sich eben ein.“

Es sind die Faszination am Schemenhaften, der Freiraum für Interpretationen, der Raum für Fantasie, welche den Sagenfreund begeistern: „Das Erzählte ist nicht geschlossen, sondern oft lebendig. Die Gedanken der Romantik, also Weltflucht, Freiheit des Individuums, sein schöpferisches Tun und die Vorliebe fürs Dunkle und Rätselhafte, werden transportiert. Ich mag, dass es reale, regionale Verortungen und klare Jahreszahlen gibt. Viele der Schauplätze existieren und sind für uns erlebbar. Und trotzdem ist es wohl das Nebulöse, das Übernatürliche, was mich am meisten anzieht.“ Dass er und seine Familie von Pillnitz nach Frauenstein im erzgebirgischen Mittelsachsen – das von Kochan liebevoll „Mittelerde“ genannt wird – umzogen, gleicht einer Fügung. Bereits im Vorfeld gab es enge Anknüpfungspunkte in die Region: „Als die Dorfstraße des Burkersdorfer Ortsteils Tempel ebenfalls in Tempel umbenannt wurde, freuten wir uns umso mehr.“

Von Kochans Bürofenster aus gelingt der visuelle Ausflug in die landschaftliche Weite in Sekundenbruchteilen. Das zauberhafte Umfeld inspiriert täglich neu. Ab 2015 bietet der Wahl-Erzgebirgler Kinderprojekte rund um mittelsächsische Sagen an Schulen an. Über selbst gedrehte Trickfilme dürfen sich Geschichten kindgerecht weiterentwickeln. Später kommen Ferienangebote, Sagenwanderungen, Sagenschatzkarten, Postkarten-Sagen-Theater und Sagenforscherausweise sowie immer wieder digitale Angebote dazu. Mit einer speziellen, auf Sagen abgestimmte App bewirbt sich der Tüftler bei Wettbewerben. Aktuell entsteht ein Computerspiel, bei dem moderne Elemente auf historisches Kartenmaterial treffen. Das letzte Level ist analog am sagenhaften Ort zu absolvieren - im Sinne von „auf dem Sofa beginnen und dann das höchste Level in Sachsen erreichen“.

Nils Kochans aktuelles Hauptwerk ist eine „Sagenpfade“ (sagenpfa.de) genannte, frei zugängliche Website. Seit rund acht Jahren verortet er auf dieser tatsächlich existierende Anlaufpunkte, welche in Sagen Erwähnung finden, mit Kartenmaterial, Quellenangaben und der zum Nachlesen hinterlegten Sage sowie in der Nähe liegenden weiteren Sagenorten. Glücklicherweise schaut der Sagenkenner nicht gern fern, verbringt seine Abende lieber lesend und recherchiert im Internet: „Es gibt Orte, die sind ganz leicht zu finden. Bei anderen sucht man stundenlang.“ Mittlerweile ist sein digitales Tun mit einem Youtuber verknüpft, welcher in Ton und Bild die Sagen verarbeitet („Klangzeitfolgen“). Derzeit umfasst Nils Kochans Fleißarbeit auf der Internetseite 1000 Sagen. Weitere kommen dazu. „Das ist meine Winterarbeit im Büro, aber der Winter war zu kurz“, lacht der Sagenhüter: „Bemerkenswert ist, wie sich die Zugriffszahlen erhöhen, wenn bestimmte Filme oder Serien anlaufen.“ Nicht alle Orte hat der Wahl-Erzgebirgler persönlich aufgesucht. Aber eine Anlaufstelle steht ganz oben auf der Reiseagenda: die Prokopikirche in Graupen.

Wünsche gibt es eine Menge, unzählige Projektideen und auch Visionen. Über seine Motivation, regionale Sagen in den Mittelpunkt der Wahrnehmung zu rücken, fasst der Experte zusammen: „Sagen verstehe ich als Bereicherung, als Bindung in die Region, das Heimatliche rückt in den Vordergrund wie beispielsweise unsere besonderen Bergwiesen. Regionale, auch teilweise nicht mehr verwendete Begriffe werden vermittelt und Verbundenheit aktiviert. Immer aber sind sie Kommunikationsmittel.“ So berichtet er von interessanten Gesprächen bei Sagenwanderungen und beginnt aktuelle Serienerfolge aufzuzählen, die sich unter anderem auf polnische Sagengestalten begründen: „Fantastisches Storytelling ist heute sehr gefragt. Der Hype um Verfilmungen und TV-Serien ist nachvollziehbar – Menschen mögen Geschichten“. Dem Sagenexperten darf bei aller Ernsthaftigkeit Humor nicht zu kurz kommen. Auf einer von ihm entwickelten sagenhaften Wanderkarte steht das Wort Osterzgebirge. Wenn man ganz genau hinschaut, ist zu erkennen, dass es sich zu einem „Ghosterzgebirge“ entpuppt.

Fragt man Nils Kochan nach seiner Lieblingssage nennt er mindestens zwei. Zuerst die von den Walen, auch Venediger genannt. Der Sagenüberlieferung nach trieben diese fremden Erz- und Mineraliensucher Material für die Glasherstellung auf - mit fortschrittlichem Wissen, das weit über die damalige Zeit hinausgegangen sein soll. Während die heimische Bevölkerung barmte und in Elend lebte, kamen im Frühjahr ärmlich verkleidete Walen am Berg an und verließen ihn reich. Die „Goldsucher“ regten aufgrund ihrer fremden Sprache und des unverständlichen Tuns in den Bergen in ganz Mitteleuropa zur Sagenbildung an. Verknüpft mit magischen Eigenschaften erschienen sie als zauberkundige und geisterhafte Fremdwesen. Die Walenbücher, angeblich Wegbeschreibungen zu verborgenen Schätzen und reichen Erzadern, schrieb man ihnen zu. Das Fantastische gepaart mit Funken von Wahrheit und Weisheit findet sich in fast allen Sagen. „Es sind oft Metaphern für unser Leben, wie wir miteinander umgehen und die Welt begreifen“, betont Nils Kochan: „Oder auch Handlungsempfehlungen, je nach dem, was man herausliest.“

Jetzt regnet es am Tempel. Am nächsten Morgen wird Nebel wie Wäsche zwischen den Bäumen hängen, Schwaden über den Wiesen aufsteigen. Immer wieder versucht Nils Kochan dieses stimmungsvolle Bild fotografisch einzufangen. Gedanklich ist er sofort bei den Holzweibeln. Diese Gestalten, so die Sage, waren die guten Seelen des Hauses, brachten ausgebrochenes Vieh zurück, halfen im Haushalt, versorgten die Kinder... Dafür nahmen sie sich ein wenig vom Essen und für den eigenen Unterhalt. Als die Menschen begannen, zu knausern und die Knödel im Topf zu zählen, hatten die Holzweibeln nichts mehr für sich. Sie gingen fort: „Nur manchmal noch erahnen wir ihre Anwesenheit im Wald. Wenn Dampf vom Essen kochen oder Wäsche waschen aufsteigt.“

Text: M&M I Maikirschen & Marketing e.K.